Aufbruch in die neue Welt           (Stern Nr. 19 vom 4. Mai 2005)

Die paar Dutzend Häuser. Der Wald. Die sanften Hügel. Es ist Frühling, Blumen und Bäume blühen, und das Dorf Reinsdorf, hessische Grafschaft Schaumburg, zeigt sich in voller Pracht. Wie um den Abschied noch schmerzvoller zu machen. Wie um Christoph Winkelhake, dem es ob der großen Reise ohnehin schon graust, noch einmal zu zeigen, dass hier seine Heimat ist.

Heimat ja, aber Zukunft?

Winkelhake ist Leinenweber, ein ehrbares Gewerbe, schon Vater und Großvater saßen hinterm Webstuhl. Aber auch ein Beruf, der die Familie nicht mehr ernährt, seit die Engländer mit Maschinen produzieren und die Preise drücken.

Am anderen Ende der Welt wird alles besser sein. Amerika! Alle reden darüber. Land soll es dort geben. Arbeit. Und mit 29 ist er, Winkelhake, doch jung genug, um mit Frau und zwei Kindern noch einmal von vorn anzufangen, um mit 17 anderen Familien das Abenteuer des Lebens zu wagen: die Auswanderung.

Leinenweber aus Hessen, Bauern aus Pommern, Schreiner aus Schwaben:

Mehr als fünf Millionen Deutsche zog es im 19. Jahrhundert nach Amerika, allein 1,2 Millionen davon in einer der größten Wellen zwischen 1840 und 1855. Dazu Engländer, Iren, Polen, Italiener. Kein Land Europas, das nicht von Massen in Richtung Neue Welt verlassen wurde. Insgesamt 19 Millionen Menschen emigrierten im 19. Jahrhundert in die USA- eine der größten Völkerwanderungen der Geschichte. Jeder sechste Amerikaner beruft sich heute auf deutsche Wurzeln (siehe Karte Seite 34).

Jahrhunderte lang hatten deutsche Bauern, Handwerker und Tagelöhner von viel Arbeit und wenig Geld gelebt. Hatten gehaust auf dem Land in feuchten, zugigen Häusern oder dicht gedrängt in den Massenquartieren der Städte. Doch jetzt, im 19. Jahrhundert, begannen Dampfmaschinen die Arbeiter zu ersetzen: Europa industrialisierte sich. Besonders England, den anderen Staaten voraus, produzierte nun schneller und billiger. Das traf vor allem die deutschen Weber und Spinner, die so zu den ersten Opfern dieser frühen Globalisierung wurden.

Die Armen wurden noch ärmer. Mehrere Familien teilten sich eine Stube, einzig Kreidestriche unterteilten das Terrain. „Ich habe Reviere gesehen“, berichtet der Nationalökonom Friedrich List, „wo ein Hering an einem an der Zimmerdecke befestigten Faden mitten über dem Tisch hängend unter den Kartoffelessern von Hand zu Hand herumging, um jeden zu befähigen, durch Reiben an dem gemeinsamen Tafelgut seiner Kartoffel Würze und Geschmack zu verleihen“ Eine Missernte wie etwa 1846 — und Zehntausende hungerten, erkrankten, starben.

Wie viel Gutes hörte man dagegen aus Amerika! Wer den Schritt gewagt hatte, schwärmte davon in Briefen, wie jener Auswanderer aus Hohensolms: „Dass ihr euch entschließen möget, auch nach diesem Weltteil der Freiheit zu kommen, ich weiß, würde euch gewiss hier gefallen.“

Solche Zeilen gingen von Hand zu Hand, eigene Auswandererzeitungen, die in den deutschen Städten verkauft wurden, druckten lange Berichte, und dann schickten auch noch die Schifffahrtsgesellschaften ihre Werber über Land. Zwar waren schon 1693 die ersten Deutschen nach Amerika gezogen —13 Mennoniten Familien aus Krefeld, aber erst jetzt, Mitte des 19. Jahrhunderts, ergriff das Fernweh wie ein Fieber die Dörfer und Städte; auf den Straßen sang man: „In Amerika, da ist es fein, da fließt der Wein zum Fenster rein. Wir trinken eine Flasche Wein und lassen Deutschland Deutschland sein.“ Den Gemeinden war dies alles recht: ein paar arme Menschen weniger, die sie versorgen mussten.

Familien wogen Für und Wider ab, besprachen sich mit Nachbarn, fassten Mut, packten Kleider, Unterwäsche und Schuhe (die »Deutsche Gesellschaft in New York« etwa empfahl, nur das Notwendigste mitzunehmen). Sie verkauften Grund und Gut und stellten sich der Herausforderung ihres Lebens — die gleich vor der Haustür begann.

Nur wenige der Heimatflüchtigen lebten in den Häfen an Nord- und Ostsee. Die Winkelhakes, die Menschings und die Flentges aus der Grafschaft Schaumburg hatten es da noch vergleichsweise einfach. Ihre Heimat lag im Einzugsgebiet der Weser. Nur einen Tag brauchten die Familien im Frühjahr 1845 bis nach Petershagen, wo sie eines der Lastschiffe besteigen konnten, das die Weser abwärts trieb. Ein paar Tage auf dem Fluss, und die Auswanderer waren in Bremen. Dann nochmals zwei, drei Tage mit den Weserkähnen bis nach Bremerhaven.

Die Hafenstadt, erst 1827 gegründet, wimmelte von Auswanderern, in den Straßen und Wirtshäusern herrschte babylonischer Sprachwirrwar. Allein die deutschen Dialekte: Wann hatte ein Pommer zuvor schon einmal einen Bayern fluchen gehört? Dazu Polnisch, Russisch und auch viel Jiddisch - gerade jüdische Auswanderer sollten später das kulturelle Leben New Yorks prägen.

Fast die Hälfte aller Deutschen, die es Mitte des 19. Jahrhunderts nach Amerika zog, brach von Bremerhaven aus auf: Erst Ende des Jahrhunderts löste Hamburg die Stadt an der Wesermündung als führenden Auswandererhafen ab.

Wirte und Händler machten gute Geschäfte, erst nach und nach hatten die Hansestädte Gesetze gegen die Wucherei erlassen. Um den Andrang zu bändigen, wurde 1849 in Bremerhaven das Auswandererhaus eröffnet, in dem 2000 Menschen schlafen und bis zu 4000 essen konnten. Um 1900 zog Hamburg mit den Auswandererhallen auf der Elbinsel Veddel nach.

So eng und ärmlich die Zwischenlager in den Häfen waren, erschienen sie noch komfortabel gegenüber dem, was die Heimatflüchtigen auf den Zwischendecks der Segelschiffe erwartete: 1,80 Meter niedrige Decken, doppelstöckige Holzpritschen mit Strohsäcken, keine Toiletten, kaum frische Luft. Jedem Auswanderer stand gerade einmal ein Quadratmeter zur Verfügung — und der war meist verdreckt mit Urin, Kot oder Erbrochenem.

45 Tage brauchten Segelschiffe im Durchschnitt von Bremerhaven nach New York, aber auch Überfahrten von 80, selbst 100 Tagen waren nicht selten. Und kaum einer der Passagiere, der nicht mit der Seekrankheit kämpfte: „Die in den oberen Betten liegenden Personen erbrachen sich so, dass es auf die unten liegen den Personen floss. Mancher hatte den ganzen Tag sein Nachtgeschirr bei sich im Bett, ein anderer sein Waschgeschirr und wohl ihm, wenn er sich mit Derartigem versehen hatte“, berichtet der Rheinländer Franz Ennemoser. Weit schlimmer litten die, die sich mit Cholera oder Typhus infiziert hatten. Gut zehn Prozent der Auswanderer überlebten die Überfahrt nicht, manchmal, wie bei den 667 Toten der aus Liverpool kommenden „England“, rafften Seuchen gar die Hälfte der Passagiere dahin. Erst als sich ab 1870 die Dampfschiffe durchsetzten, viel schneller und mit besserer Hygiene, sank die Todesrate — mehr Platz aber boten sie nicht

Und wenn dann der erste Streifen der Neuen Welt am Horizont auftauchte, war das Abenteuer nicht ausgestanden, ja, es begann erst richtig. Noch hatten die Familien aus Hessen, Bayern, Schwaben und Pommern kein Haus, keinen Acker, sie sprachen kein Englisch, kannten das Land Ihrer Hoffnung nur von den Anpreisungen der Reeder und aus Zeitschriften. Selbst dass sie amerikanischen Boden betreten durften, war nicht sicher.

Seit der Strom der Immigranten ab 1840 stark angeschwollen war — 1854 waren darunter erstmals mehr als 200000 Deutsche —‚ versuchten die Vereinigten Staaten diesen stärker zu kontrollieren. Mittlerweile hatte sich New York als Haupteinlaufhafen durchgesetzt, und so errichteten die Behörden 1855 an der Südspitze Manhattans das erste Einwandererzentrum „Castle Garden“.

Im Kuppelbau des ehemaligen Konzerthauses verbrachten die werdenden Amerikaner nun ihre ersten Stunden in der neuen Heimat. Wurden nach Herkunft, Familie, Reiseziel befragt, durften Geld umtauschen, nach Hause telegrafieren. 1892 zogen die Behörden auf die Insel Ellis Island um. Hier, vor Manhattan, neben der gerade gebauten Freiheitsstatue, ließen sich unwillkommene Ankömmlinge leichter aussortieren. Dazu zählten Geisteskranke, Prostituierte, Kriminelle, Anarchisten sowie all jene, denen der Arzt ein „B“ (für „back“) mit Kreide auf die Kleidung gemalt hatte. Bis zu 10000 Personen saßen täglich eng an eng im Warteraum, ein bis zwei Prozent von ihnen wurden wieder zurückgeschickt.

Wer bei der vier, fünf Stunden dauernden Prozedur durchkam, dem stand die Neue Welt offen. Nur: Wie sollte er sich in ihr zurecht finden? „Trübselig saßen die Einwanderer  auf ihren Betten und Kissen“ notierte Charles Dickens während einer Amerikareise „den blanken Boden unter sich und den kahlen Himmel über sich, und wussten vom Land so wenig, als wären sie eben von einem anderen Planeten gefallen.“ Die Neubürger waren leichte Opfer für all jene, die sie mit Wucherpreisen um ihre paar Dollars brachten — vor allem für die weitere Passage.

Zwar blieben immer mehr Deutsche in „Neu-York“ hängen — Mitte des 19. Jahrhunderts lebten etwa 100 000 dort, vor allem in „Klein-Deutschland“ im Osten Manhattans rund um den Tompkins Square. Doch der Traum vieler lag noch Tausende Meilen entfernt: die fruchtbaren Böden des Westens.

Die Route dorthin führte mit Dampfer und Eisenbahn über Albany, Buffalo, Toledo bis nach Chicago. Wieder eine Odyssee von drei Wochen, wieder hockten die Auswanderer zusammengepfercht in rüttelnden Waggons oder im Zwischendeck eines Dampfers. Von Chicago aus rollten dann die Planwagen nach Illinois, Wisconsin, Iowa, Missouri.

Im Spätsommer 1845, drei Monate nachdem er die Heimat verlassen hatte, zog so auch der Treck des Leinenwebers Christoph Winkelhake durch den weiten Westen, erreichte schließlich sein Ziel: Sarah‘s Grove in Illinois. Ein Nest inmitten endloser Prärie, wo zwei Wäldchen als einzige Wegmarken dienten. Die Familien steckten einen „claim“ ab zum Standardpreis von 1,25 Dollar pro Acre (0,4 Hektar), bauten Häuser, begannen, die Felder zu bestellen.

Aber die Quälerei zahlte sich aus. Schon 1850 besaß Christoph Winkelhake 64 Hektar Land — in der Heimat war es ein Flecken von 0,12 Hektar gewesen. Jetzt lebten über 700 Schaumburger in der Gemeinde. Das Dorf trug mittlerweile sogar, wie viele Siedlungen, den Namen der alten Heimat. Neben einem amerikanischen Berlin, Hamburg oder New Franken gab es nun mitten in der Prärie auch ein „Schaumburg Township“. Heute heißen in den USA allein mehr als zwei Dutzend Orte Berlin, vor allem in den Hauptstaaten deutscher Einwanderung, dem so genannten German Belt, der von Wisconsin über Minnesota, North Dakota, South Dakota bis nach Iowa reicht.

Hatten Berliner mit den Franken in der Alten Welt nur wenig gemein gehabt, entdeckten die Auswanderer in der Ferne das gemeinsame Vaterland. Gründeten deutsche Vereine. Buken deutsches Brot. Feierten 1870/71 den Sieg über Frankreich. Als während der Wirtschaftskrise in den l880ern der deutsche Auswandererstrom noch einmal stark anschwoll, bekamen die Heimatvereine in Übersee weiteren Nachschub. Das stolze und öffentliche Gedenken der deutschen Wurzeln verschwand - natürlich - mit dem Ersten Weltkrieg: Germany war nun der Feind, und aus Eingewanderten wurden Amerikaner.

Nur zweimal noch erreichten danach größere deutsche Auswanderungswellen Amerika. Nach 1933, als Künstler, Intellektuelle, Juden vor den Nazis flohen, und zuletzt Anfang der 50er Jahre: Mehrere Hunderttausend sahen in den Trümmerlandschaften keine Zukunft mehr und wagten den Neustart in den USA. Das Wirtschaftswunder beendete diesen letzten Boom. Und die hessischen Leinenweber, die Winkelhakes in ihrem Schaumburg Township? Bestellten weiter ihr Land, zeugten Nachkommen, zerstreuten sich. Der jeweils Erstgeborene erbte das Land und blieb — bis 1987.

Da zahlte sich die Ansiedlung des Urahns zum letzten Mal aus: Die Firma Motorola kaufte Fred Winkelhake das Land, das sein Urgroßvater einst für ein paar Dollar erworben hatte, für mehrere Millionen ab, und der letzte Winkelhake verließ Schaumburg Township. Gen Florida.

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English Version (many thanks to Lynn and Don for their help!)

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US Population Statistic looking at German Ancestry

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Für 188 Taler: Auswanderung aus Mecklenburg nach Amerika um 1850

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"Was wären sie ohne uns": Prominente US-Bürger mit Ahnen aus Deutschland  

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Unsere 3 Auswanderer : Aloys, Leonhard & Franz Otto Dörsam 

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